Es ist Samstagabend, der kleine Uhrzeiger befindet sich irgendwo zwischen der 7 und der 8 auf dem Ziffernblatt. Zu dieser Zeit sitze ich für gewöhnlich zu Hause am Esstisch und fröne den eloquenten Ausführungen der ehemaligen Fußballweltmeister im Bezahlfernsehen, ist der Sonnabend doch gewohnter Weise dem marketingrelevanten Premiumprodukt der höchsten Spielklasse reserviert. Oder andersrum: Der Sonnabend stellt keinen Spieltermin dar, der aufgrund seines hervorragenden Aufmerksamkeitspotentials für den Rumpelfußball der mir nahestehenden, zweithöchsten Spielklasse dieses Landes von Relevanz wäre. Wenn der geneigte Sky-Abonnent seinen wöchentlichen Fix hochklassiger Fußballunterhaltung konsumieren möchte, muss eben doch eine stattliche Anzahl Nationalspieler auf dem Feld versammelt sein. Und selbst wenn dann das zum Topspiel hochgeredete Gestöpsel seinem Etikett nicht gerecht wird, kann man ja doch stets auf das offensichtlich schier grenzenlos vorhandene Potential der aufgelaufenen Spielerschar verweisen. Wird schon noch werden und sie haben ihr Können ja schließlich schon andernorts unter Beweis gestellt – so quasi. Wie soll ein Lothar Matthäus auch sonst im wöchentlichen Rhythmus von einer hohen Bassquode in der spurenelementartig informativen Halbzeitanalyse schwärmen?
Samstagabend also. Und Fußball für mich, hautnah als Liveerlebnis. Aus glücklichen Umständen ergab sich am Vortag des Spiels die Möglichkeit kostengünstig zwei Karten für das Spiel FC Bayern München gegen den Sportverein Werder Bremen zu ergattern. Da mich meine Wege ohnehin in die Landeshauptstadt geführt hätten, ließ sich dieses Vorhaben kurzerhand und ohne große Planung umsetzen und so hatte ich knappe vierundzwanzig Stunden später eine Saisonkarte des roten Münchner Vereins in den Händen, die mir von einem Verhinderten überlassen für diesen einen Spieltag Zutritt zur Allianz Arena gewähren sollte. Für den gemäßigten Stehbereich der Heimseite wohlgemerkt, wo ich doch aufgrund guter freundschaftlicher Verbindungen nach Bremen – trotz vergleichsweise geringer Aktien in diesem Spiel – meine Sympathien für die grün-weißen Freunde von der Weser wohl nur schwer verbergen können würde. Die Optionen hießen also offene Provokation oder auf die Zunge beißen. Das Spannende an dieser Möglichkeit war für mich eigentlich weniger das bloße Geschehen auf dem Rasen, sondern viel mehr das ganze Drumherum. Ich war gespannt auf die Atmosphäre einer ausverkauften Arena, auf das Publikum, auf das Gebotene und ob dieser offensichtlich für viele tausende Leute spürbare Reiz des glorreichen FC Bayern auch ein bisschen auf mich abfärben könne. Wenn man so möchte, wollte ich auch einmal für die Dauer eines Stadionbesuches ein Eventfan sein – ich wollte mich auch einmal ohne die einer Achterbahnfahrt gleichkommenden, emotionalen Beteiligung berieseln lassen. Dass ich damit allerdings so kläglich scheitern sollte, war mir zu diesem Zeitpunkt noch nicht bewusst. Zugrunde liegt eine Chronologie von Beobachtungen, die ich an dieser Stelle teilen möchte.
Wo die Anfahrt zum Stadion nur von der ungewohnt grellen, mir ja ohnehin fremden Primärfarbe des lokalen Großvereins dominiert werden sollte und abseits dieser Ungewohntheit keinerlei Auffälligkeiten darstellte, erwies sich der Weg von der U-Bahn zur Einlasskontrolle als erste Begegnung mit dem Unbekannten. Die letzten hundert Meter wurden zum Spießroutenlauf zwischen selfieschießenden Touristen- und Stadionerstbesuchern hindurch. Menschen, die sich gegenseitig eingehakt aufbauten, mussten ihren abendlichen Ausflug für die Nachwelt festhalten – oder, was wahrscheinlicher ist, für die Weiterreichung auf sozialen Kanälen. Man fühlte sich etwas an eine Preisverleihung erinnert, bei der die Wege der Stars und Sternchen aus allen erdenklichen Winkeln von Fotografen festgehalten werden. Lauschte man kurz den beschwingten Kommandos der freudig grinsenden Bildmotive, konnte man eine Vielzahl verschiedener Sprachen ausmachen. Die Besucherschar schien äußerst international zusammengestellt zu sein. Unterstützt wurde dieser Eindruck von mehreren asiatischen Gruppen, die anscheinend im Kollektiv mit identischen Fanutensilien ausgestattet wurden: Baseballkappe und Schal. Mir wurde in diesen Momenten noch vor dem ersten Betreten des eigentlichen Stadiongeländes klar, dass eine nicht unwesentliche Teilmenge der Bayern Fans an diesem Abend ihren Premierenbesuch im Münchner Fußballtempel feiern sollte. Unterstützt wurde dieser Eindruck von der auffallend dichten Präsenz roter Fanshop Tüten. Nun muss natürlich nicht hinlänglich jeder Tütenträger das erste Mal einen Fuß in das Stadion setzen, aber es kauft sicherlich nicht jedermann alle zwei Wochen neue Artikel im Fanshop ein. Ein beträchtlicher Teil des Systems FCB ist auf Konsum und Vermarktung ausgelegt. Und das spürt man. Seien es die Fotofans, die Tüten oder die aufdringliche magentafarbene Aufforderung zur Benutzung des kostenlosen Stadion-WLAN, um mit Lichtgeschwindigkeit die Bayern-App durchforsten zu können.
Auf dem Rasen manifestiert sich mit dem Anpfiff dieses zum Topspiel deklarierten Bundesligaduells eine erstaunlich eindimensionale Darbietung. Der vor Ehrfurcht gelähmt erscheinende Sportverein aus Bremen will und kann sich der Dominanz des Münchners Spiels nur mit kläglich passiven Abwehrversuchen erwehren. Es wird zügig klar, dass es sich an diesem Abend nur um die Höhe des Bayernsieges drehen wird. Mir kam der einseitige Spielverlauf zugegebenermaßen aber nicht allzu unrecht, eröffnete er mir doch mit nur spurenelementartig vorhandenem schlechten Gewissen die Möglichkeit meinen Blick vom Geschehen auf dem Rasen zu lösen, um meine Aufmerksamkeit etwas auf die Randaspekte und Begleiterscheinungen richten zu können. – Die Platzsuche verlief zunächst wenig zufriedenstellend und so musste man sich im prall gefüllten Stehblock mit einem Platz auf der mühsam freigehaltenen Treppe zufrieden geben. Mein Augenmerk galt dem Dreieck zwischen der gegenüberliegenden Münchner Südkurve, den unmittelbaren Nachbarn im eigenen Block und dem im Oberrang platzierten Gästesektor.
Zur ersten zentralen Erkenntnis konnte ich schnell gelangen: Ich habe wohl noch nie einen so emotionslosen, unterkühlten Stehplatzbereich erlebt. Der Blocknachbar zu meiner Linken wäre ohne seine an vergebene Chancen anschließenden Ausflüchte in die tiefsten bajuwarischen Fluch Schubladen keinem der beiden antretenden Mannschaften zuzuordnen gewesen. Sein Verhalten empfand ich als Sinnbild für den gesamten Stadionbereich. Keine optische oder akustische Unterstützung bietend steht beziehungsweise sitzt man an seinem Platz und verfolgt emotionslos die Begebenheiten. Vergebene Chancen oder geschickt vorgetragene Angriffe werden augenscheinlich als derartig voraussetzbar angesehen, dass sie dem Publikum kaum eine unmittelbare Reaktion entlocken. Torerfolge – mei, nimmt man mit einem leichten Lächeln zur Kenntnis. Die beiden lautesten Momente innerhalb der gesamten neunzig Minuten sollten am Ende eine vermeintliche Fehlentscheidung des Schiedsrichters sowie die Auswechslung des unorthodox agierenden Fußballgoofys Thomas Müller sein. Der Sekundenzeiger schafft in der ersten Halbzeit keine ganze Umrundung, ohne einen aus oder in den Block strömenden Besucher. Immer wieder wird man so aus dem Spiel gerissen. Ich konnte zu keinem Zeitpunkt konzentriert in das Geschehen eintauchen und wurde zunehmend entnervter. Einige Reihen weiter in Richtung Mittellinie platziert befindet sich eine mit weißen Umhängen und Wollmützen bekleidete Schar von Menschen, die für die Fernsehkameras gut erkennbar das Firmenlogo der Telekom auf die Tribüne zaubert. Wie mir nachher auf Basis eines Gerüchtes erzählt wird, handelt es sich dabei um Auszubildende des Unternehmens, denen die – natürlich verbindliche und kostenlose – Teilnahme an dieser Aktion als Arbeitszeit angerechnet wird. Dass sich diese einem amerikanischen Rassistenklan ähnelnden Figuren während meiner Beobachtungen zu keiner Bewegung hinreißen ließen, muss an dieser Stelle wohl nicht erwähnt werden.
Wie ein konträres, sich deutlich von seiner Umgebung abhebendes Biotop in dieser Wüste der Emotionalität und Leidenschaft wirkt hingegen die Südkurve. Wo der Gästeanhang trotz sehr stattlicher Anzahl aufgrund der Materialverbote sowie mindestens suboptimaler Positionierung unter dem Dach nicht einmal in den örtlich benachbarten Blöcken richtig wahrnehmbar wurde, verströmte der organisierte Heimbereich eine willkommene Abwechslung zum restlichen Operettenpublikum. Bunt, politisch engagiert und in guter Lautstärke verfolgte man einen Support, der wie eine letzte kleine Bastion im manifestierten Establishment der Big Spender wirkt. Es entsteht ein Kontrast, der deutlicher nicht ausfallen könnte. Wo man wohl von Vereinsseite einerseits froh um diesen zusätzlichen Aspekt des vermarktbaren Stadionerlebnisses ist, muss einem das Durchhaltevermögen der Südkurve rund um die Schickeria angesichts des überschaubaren Anklangs doch etwas Respekt abringen. Dass die Vertretung von eigenen beziehungsweise fanpolitischen Interessen in einem solchen Konstrukt einem Kampf gegen Windmühlen gleicht, wird in solchen Momenten nachvollziehbarer als es die nüchtern objektive Betrachtung der Voraussetzungen ohnehin bereits erahnen lässt.
Eine weitere Begegnung mit dem Unbekannten stellten die Zuschauergruppen dar, die rund zehn Minuten vor dem regulären Spielende begannen fluchtartig das Stadion zu verlassen. Gut, dass in einem mit mehreren zehntausend Zuschauern gefüllten Stadion der eine oder andere vielleicht relativ knapp zum Geburtstag der Oma eintreffen muss, kann man sich ja noch vorstellen. Dass aber noch während des laufenden Spiels Blöcke im Stadion zu annähernd drei Vierteln leerstehen, habe ich abseits einer deutlichen Schlappe für die Heimmannschaft in dieser Form noch nicht erlebt. Wenn man nur die rasche Flucht aus dem Stadion im Kopf hat – warum geht man dann überhaupt dorthin? Man bedenke an dieser Stelle, dass diesem Teil der Besucher zwei Tore verwährt blieben. Diejenigen, die sich noch im Umlauf befanden, konnten so hastig herbeigeeilt zumindest noch das Ende der Torfeierlichkeiten miterleben. Ob man sie darauf hinweisen hätte sollen, dass die Wiederholung mit einer Verzögerung von wenigen Sekunden auf den Fernsehern in den Gängen zu sehen gewesen wäre? – Meine persönliche Krönung stellte dann aber die kleine Männerrunde dar, aus der mich ein Vertreter im unmittelbar an den Schlusspfiff anschließenden Fluchtimpuls über die Schulter mit folgendem Hinweis bedachte: „Das Spiel ist vorbei, gell?!“. Seinem verdutzten Gesichtsausdruck nach zu urteilen, war „Ja ja, geht ihr ruhig“ die falsche Antwort. Nein, ich kann nicht nachvollziehen, wie man sich in dieser Situation und an einen 5:0-Erfolg anschließend nicht die wenigen Minuten Zeit nehmen kann, um sich von der Mannschaft zu verabschieden. Ja, auch die Herren Multimillionäre waren sich keineswegs zu schade in beiden(!) Kurven des Stadions artig für die Unterstützung dankend vorstellig zu werden. Aber auch in diesem Zusammenhang spiegelt der Anhang des FC Bayern diese erfolgsverwöhnte Selbstverständlichkeit wieder, die bereits weiter oben im Text angesprochen wurde.
Der FC Bayern und sein Monumentalbau stellen resümierend für mich und meine Erwartungen an den Fußball schlichtweg eine Parallelwelt dar. Mir bleibt die Faszination, die Menschen rund um den Globus von diesem Verein begeistert, absolut schleierhaft. Mir persönlich ist das gesamte Auftreten auf und neben dem Feld zu berechnet, zu steril, zu glatt. Ich könnte mich dort absolut nicht heimisch oder zumindest aufgehoben fühlen, könnte mich wohl nicht als hunderttausendster Teil dieses Ganzen fühlen. Auf der anderen Seite darf man das natürlich niemandem absprechen – jeder Fußballanhänger, Fußballinteressierte soll und muss nach seiner eigenen Fasson denken und handeln dürfen. Dem Verein seiner Sympathie nacheifern dürfen. Ich möchte keine Rezension abgeben und darin jedem von diesem Produkt abraten – Ich möchte allerdings doch festhalten, dass es grundlegende Unterschiede in der Rezension von Vereinen gibt. Die schillernde, erfolgreiche, aber eben auch aufgrund ihrer vorprogrammierten Anmut etwas seelenlos daherkommende Fußballwelt des FC Bayern ist etwas Eigenes. Etwas, womit nicht jeder etwas anfangen kann und vermutlich eine spezielle Sorte Fußballinteressierter anlockt. Ich gehöre nicht dazu. Ich brauche keine Perfektion, keine dem Erfolg alles unterordnende Werte. Ich möchte zu etwas gehören, bei dem ich das Gefühl habe einen spürbaren Teil beitragen zu können. Mich zu Hause fühlen, das wertvolle Empfinden von Zugehörigkeit erleben können. – Unter dem Strich war es ein interessanter Ausflug, der mir in vielen Hinsichten neue Einblicke gewähren sollte. Der mir meinen eigenen Verein in seiner Abwesenheit nochmal ein Stück näher gebracht hat, da einem erst dann richtig bewusst wird, was man an etwas hat, wenn man es einmal nicht (mehr) hat. Im Gegensatz zu Topspielen am Samstagabend im Übrigen. Die werde ich nämlich in den kommenden Wochen wieder bevorzugt am Esstisch verbringen.