Axiom.

Mit der Mathematik ist das ja immer so eine Sache. Erfahrungsgemäß gibt es da immer die breite Masse, die man mit dem Kram jagen kann – und eben die Anderen, denen es auf unverständlichste Weise spürbare Freude bereitet, irgendwelche hochkomplexen Gleichungssysteme mit unzähligen seltsam anmutenden Formelzeichen zu lösen. Ich muss ja zugeben, dass ich während der Schule und dem Studium meist in der glücklichen Lage war, trotz absolutem Desinteresse und der einen oder anderen frühmorgens abgeschriebenen Hausaufgabe über einen relativ geschickten Umgang mit Zahlen und Formeln zu verfügen. Richtung naturwissenschaftlicher Oberstufe kreuzte nach endlosen Jahren der eintönigen Analyse von Graphen dann aber kurz vor knapp doch noch ein Themengebiet meine Wege, das mir tatsächlich aufrichtigen Spaß bereiten sollte: Stochastik. Das mag zunächst nicht jedermann etwas sagen, wird aber aus dem Altgriechischen in das Deutsche übersetzt deutlich verständlicher: Wahrscheinlichkeitstheorie. Und ohne jetzt zu tief in die Materie einsteigen zu wollen, kann man eine zentrale Erkenntnis festhalten: Bleibt bei gleichbleibenden Ausgangsmöglichkeiten eine dieser Möglichkeiten über eine längere Abfolge von Versuchen außen vor, wird es mit zunehmender Anzahl der Versuche immer unwahrscheinlicher, dass sich die Abfolge ohne Auftreten dieser bislang fehlenden Option fortsetzen wird. Es wird vermutlich deutlich, worauf ich hinaus möchte: Die lange fehlende Option heißt Derbyniederlage.

Im Vorgang des Derbys, das muss ich heute zugeben, hatte ich schon so ein Gefühl. Dieses Bauchgefühl, das sich bei jedem, der sich wirklich intensiv mit seinem Verein beschäftigt, immer wieder einzustellen vermag. Man entwickelt so eine Art hellseherische Neigung, die einem vorab einen Eindruck der Ergebnistendenz liefert. Und dabei überraschend oft nahe an der schlussendlich tatsächlich eintretenden Gewissheit liegt. Ja, am Vorabend musste ich mir eingestehen: „Ich glaube der Club ist wieder dran“. Da können wir den ganzen stochastischen Nerdkram auch wieder über Bord werfen – es war klar, dass die Nachbarn auch wieder ein Spiel gewinnen werden. Und selten waren die Vorzeichen aus Kleeblatt-Sicht unpassender, als vor diesem Derby. Tabellensituation der Vereine, durchwachsenes Selbstvertrauen, Auswärtsspiel. Irgendwie passte ganz nüchtern betrachtet zu wenig zusammen, um guten Gewissens und mit vollster Überzeugung von einem erneuten Geniestreich im Leichtathletikachteck ausgehen zu dürfen. Ich hoffe, ich habe es damit nicht beschrien. Dieser Aberglaube ist wirklich manchmal übel. – Nun, am Ende sollte es wirklich nicht reichen. In einem Spiel, das von zwei Mannschaften auf der permanenten Suche nach dem gewinnbringenden Verhältnis aus erfolgsversprechendem Risiko und seriöser Verteidigung bestritten wurde, zog man den Kürzeren. Am Ende fehlte in einem ausgeglichenen Derby das letzte Fortune, das Momentum entscheidend und nachhaltig auf die eigene Seite zu bringen. Trotz früher Führung und einer über ganz weite Strecken konzentrierten Leistung konnte man die knappe Niederlage nicht abwenden. Die Serie ist gerissen, wir haben nach acht Jahren mal wieder ein Derby verloren. Da ich mich aufgrund der ominösen Vorahnung ein Stück weit darauf eingestellt hatte, konnte ich mich relativ schnell mit dieser Niederlage abfinden. Wenn ich so zurück denke, wäre mir das früher bedeutend länger auf das Gemüt geschlagen. Die letzte Derbyniederlage erlebte ich als Teenager.- Zwischen den beiden letzten Derbyniederlagen lassen sich übrigens auffallende Parallelen feststellen: das Ergebnis, die entscheidenden Torschützen und ihr Lebenslauf, der Spielverlauf. – Es ist nicht so, dass der Fußball beziehungsweise der Verein für mich heute einen niedrigeren Stellenwert haben, überhaupt nicht. Aber man lernt mit der zusätzlichen Lebenserfahrung Dinge anders einzuordnen. Man kann sie schneller verarbeiten. Und dabei hilft mir auch das Schreiben dieser therapeutischen Blogtexte viel. Am Ende des Tages ist auch ein Derby abzüglich des ganzen Pathos rund um das Spiel auch nicht mehr als eines von vierunddreißig Aufeinandertreffen, in denen ein Maximum von drei Punkten auf dem Plan steht.

Derbyniederlage. (Quelle: spvgg-fuerth.com)
Derbyniederlage. (Quelle: spvgg-fuerth.com)

Dieses zügige Zufriedengeben hängt mit Sicherheit auch damit zusammen, dass man der Mannschaft absolut keinen Vorwurf machen konnte. Es war jedem weiß-grün gekleideten Spieler auf dem Feld anzusehen, dass er das Spiel gewinnen wollte. Wille, Einsatz, Kampf – es war alles da. Auch die Szenen nach dem Abpfiff zeugten von einer Mannschaft, die aufrichtige Enttäuschung darstellte. Der kritisierte Trainer wartete mit dem taktischen Kniff auf, Benedikt Röcker im defensiven Mittelfeld aufzubieten. Eine Finte, die sich als kluger Schachzug erweisen sollte, da der Tausch spielerisch höherqualitativer Aufbaumomente gegen zusätzliche physische Präsenz gerade in der ersten Hälfte des Spiels wunderbar aufging, sowie für sichtbare Ratlosigkeit auf roter Seite sorgte. Kurzum: es blieb nichts unversucht. Am Ende war einfach das Glück, das in der Hinrunde zum Ende des Spiels auf unsere Seite kippen sollte, an diesem Abend leider auf der anderen Seite. Und so bitter das in einem mit reichlich Emphase versehenen Derby ist – man muss es akzeptieren können. Das ist ein elementarer Bestandteil dieses Spiels. Des Sports im Allgemeinen. Wo es einen Gewinner gibt, da muss es auch einen Verlierer geben. Eine alte Weisheit. Wenn man alles gegeben hat, kann man erhobenen Hauptes und guten Gewissens vom Feld gehen.

Erhobenen Hauptes bringt mich zu einem Punkt, der mir unter den Nägeln brennt, den ich hier unbedingt ansprechen möchte. Es scheint mir der richtige Zeitpunkt dafür zu sein, da sich in den zurückliegenden Monaten doch verschieden gelagerte Beobachtungen anstellen ließen. Man mag mich jetzt als Unwissenden belächeln, aber ich muss es loswerden. Es geht um das Verhalten der Fans.
Die für unseren Verein wirklich überraschend empfindliche Verbandsstrafe von 35.000 Euro hat wohl jeder registriert. Ich musste zunächst kräftig schlucken. Ein Betrag, der in dieser Höhe mit Sicherheit bei den Finanzverantwortlichen nicht zu Jubelstürmen führte, kann man doch davon ausgehen, dass solche Summen ein mittelgroßes Loch in die laufenden Ausgaben reißen. Zurückzuführen war diese Verurteilung hauptsächlich auf die verschiedenen Verfehlungen rund um das Heimspiel gegen Leipzig. Und da ich weiß, dass meine Beiträge auch hin und wieder in die internen Kreise der beiden Ultra-Gruppen fließen, mache ich diese Ansprache ausnahmsweise mal recht direkt: Man Leute, wie unnötig war das denn bitte?!
Gemeint ist hauptsächlich die Ölattacke auf den Gästeblock, die ich als ungewohnt plumpe, billige Attacke wahrgenommen habe. Ja, auch ich lehne das Leipziger Konstrukt ab (wie auch sämtliche andere Investorenvereine) und finde ebenfalls, dass die Kritik daran nicht aufgrund mangelnden Durchhaltevermögens, einer sich latent einschleichenden Gleichgültigkeit oder gar Resignation im Sand verlaufen darf. Aber die „Bullen auf Eis legen“-Aktion passt nicht in das Bild, dass die Fürther Szene bisher auf mich gemacht hat und mich sämtliche Aktivitäten als interessierter Außenstehender gespannt verfolgen lässt. Ich hätte mir einen kreativeren Protest gewünscht, etwas Gewieftes. Und das wäre möglich gewesen, denn ich bin felsenfest davon überzeugt, dass es einige sehr kreative Köpfe in unseren Reihen gibt, die auf einem höheren Niveau agieren können. Nun bin ich kein Experte in Sachen Ultrakultur und kann trotz grundlegendem Interesse an der Materie und gelegentlichem Studium einschlägiger Fachliteratur noch immer nicht alle Aspekte beziehungsweise Betrachtungsweisen vollumfänglich nachvollziehen. Aber ich kann sicher sagen, dass mich diese Aktion im Nachhinein unter Berücksichtigung aller Fakten doch enttäuscht hat. Sind wir nicht alle – egal ob „Normalo“ oder Ultra, Steh- oder Sitzplatz – Spiel für Spiel beim Kleeblatt, weil wir das Beste für unseren Verein wollen? Unseren Verein nach unserer eigenen Fasson unterstützen, unseren Beitrag zum Fortschritt leisten wollen? Ich kann diese Fragen alle mit „Ja!“ beantworten. Und deswegen blutet mir das Herz, wenn MEIN Verein zu Schaden kommt – wohlgemerkt ganz egal, ob es sich dabei um materiellen oder ideellen Schaden handelt –weil WIR es verkackt haben. Weil WIR doof waren. Denn im Endeffekt fallen solche Schäden ja dann auf das Kollektiv zurück, im seltensten Fall auf Einzelne. Nach dem Credo „Die bösen Fürther Fans haben Mist gebaut“. Nein, das will ich nicht. Nicht mehr wieder. Es werden, auch vor dem Hintergrund der relativ jungen Geschichte der beiden Gruppen, bereits erstaunlich viele Dinge richtig gut gemacht, auch hinsichtlich der gesellschaftlich übernommenen Verantwortung. Aber wir sind Fürth, wir können mehr. Wir können das besser. (Dass der Becherwurf, ausgehend von der Vortribüne, nicht auf die Rechnung der Ultras geht, ist nebenbei bemerkt natürlich klar.) – Warum erzähle ich das alles? Nun, die Bestrafung durch den Verband zog nicht nur eine Geldstrafe nach sich, sondern auch eine weitere Beobachtung. Der Kreis zu den im letzten Beitrag angesprochenen Bewährungsauflagen schließt sich. Und ja, ich muss offen gestehen, dass ich etwas Angst hatte, was die insgeheim geplanten Aktionen im Stadion anging. Die nähere Vergangenheit hat gezeigt, dass es nur ganz selten ohne Rauch im Auswärtsderbyblock abgeht. Von der dämlichen, einzelnen Rakete, die vor ein paar Jahren den Nürnberger Abendhimmel erhellte, mal ganz abgesehen. Ich hoffte inständig, dass man sich zusammenreißen und auf den Einsatz von verbotenen Stilmitteln verzichten könne. Und wurde zu meiner Erleichterung trotz des kleinen Schrecks beim Hochziehen der kleinformatigen Blockfahne eines besseren belehrt. Wo wir gerade bei gewieft waren: Genau das war es und ich fand es großartig. Pyro angetäuscht und obgleich des durch die Vereine abgesprochenen Choreoverbotes für Gästeanhänger ein schickes, auf den eigenen Verein bezogenes (!) Intro präsentiert. Toll! So soll es sein, vielen Dank an alle Beteiligten. Das ist das unterstützenswerte Motiv unserer Gruppen, das sich in meinem Kopf eingebrannt hat und von dort auch nicht mehr verschwinden soll. Nicht nur die Mannschaft konnte erhobenen Hauptes aus diesem Spiel gehen – auch auf den Rängen dürfen wir das guten Gewissens, haben wir unseren Verein doch würdig repräsentiert.

Intro. (Quelle: spvgg-fuerth.com)
Intro. (Quelle: spvgg-fuerth.com)

Zur allgemeinen Unterstützung im Rahmen des Derbys möchte ich ebenfalls noch ein paar Worte verlieren. Die war nämlich spitze. Trotz bitterer Niederlage kurz vor Schluss und großer Enttäuschung würdigten alle Grenzgänger den Einsatz der Mannschaft mit aufmunterndem, ehrlich anerkennendem Applaus. Kein einziger Pfiff war zu hören. Es sollte auch der im Verhältnis zu den Fans zuletzt etwas unterkühlt wirkenden Mannschaft zeigen, dass die Anhänger in Fürth nicht etwa die vermeintlich notorischen Dauernörgler sind, sondern man eine gute Leistung auch im Falle einer Niederlage durchaus anerkennen kann. Es kommt eben immer auf das Wie an. Und das hat, wie bereits angesprochen, diesmal gepasst. Das ist das, was die Fans zufrieden zurücklässt: Eine Mannschaft, die aufopferungsvoll und aus vollem Herzen auftritt. Die mutig ist, alles für einen Sieg gibt. Spiele zu verlieren ist nun mal alles andere als eine Schande. Stolz gemacht hat mich am Tag darauf auch eine Passage aus den Fürther Nachrichten. Der an beiden Gegentoren unglücklich beteiligte Marco Caligiuri erhielt als zentrale, leider eher tragische Figur des Spiels ein paar zusätzliche Zeilen und wurde wie folgt zitiert:

„Noch vor den Fernsehkameras kommentierte er nach Schlusspfiff mit tränenerstickter Stimme die Niederlage: ‚Es ist nicht schön, das Derby verloren zu haben. Aber es ist schön von unseren Fans, dass sie uns nicht haben hängen lassen.‘“

Wie könnte man einem Spieler böse sein, der sich mit dem Bewusstsein in einem brisanten Spiel Fehler gemacht zu haben mit Tränen in den Augen vor die Presse stellt? Ganz im Gegenteil – das sind doch genau diese Protagonisten, die man sich wünscht. Mit denen man sich identifizieren kann, die das Herz am rechten Fleck haben. Von denen man nicht den Eindruck gewinnt, sie ohnehin unabhängig vom Ergebnis spätabends feiernd in einer Schickimicki-Disco anzutreffen. Andererseits schwingt für mich in dieser Aussage auch die unterschwellige Angst mit, dass sich eben durchaus das Gegenteil hätte einstellen können. Passen würde es zumindest zu meinem Eindruck einer leichten Verunsicherung bei den Spielern, als sie in den Momenten nach dem Abpfiff bis zum Gang vor den Gästeblock für mein Empfinden etwas zu lange verloren und orientierungslos wirkten. Es sind genau diese Momente, in denen man bei genauerer Beobachtung spüren kann, dass die sportlich tendenziell doch negativ verlaufende Spielzeit zu Verunsicherungen in vielerlei Hinsicht führt. Es wird in den kommenden Wochen auch an den Leuten auf den Rängen liegen, die richtige Balance aus berechtigter Kritik und aufmunternder Unterstützung zu finden. Die letzten beiden Spieltage wirkten in dieser Hinsicht wie ein Schritt in die richtige Richtung, nachdem das Spiel gegen Sankt Pauli eine spürbare Delle hinterließ. Nach Schlusspfiff hatte ich den Vorsänger der Horidos im Auge, der immer wieder mit der Faust auf die Brust klopfte. Der bedeutete die Köpfe oben zu behalten, sich nicht das Selbstvertrauen nehmen zu lassen. Für mich genau die richtige Reaktion. Es geht und ging nie darum, jemanden einzuschüchtern. Nicht bei uns. – Vielmehr geht es um das Vermitteln von Werten und Tugenden, die man vorgelebt sehen möchte. Und im Endeffekt dann eben um das Bestätigen, so man diese als erfüllt angesehen hat. Es wäre wünschenswert, wenn diese Message nun auch zu den Spielern vorgedrungen ist. Ein zerschnittenes Tischtuch wäre nämlich das Letzte, was der aktuellen Durststrecke zuträglich wäre.

Insgesamt war es ein Tag, der mir im Nachhinein einmal mehr vor Augen führte, dass ich auf der für mich richtigen fränkischen Seite stehe. Auch wenn mir bewusst ist, dass es überall eine Hand voll Chaoten gibt, bin ich doch überzeugt, dass Nürnberger und Fürther etwas unterscheidet. Charakterlich. Ich kann es nicht hundertprozentig in Worte fassen. Und ich bin mir nicht mal schlüssig darüber, ob ich das überhaupt möchte. Vielleicht sind es schlicht und ergreifend Empfindungen, die man selbst einmal gemacht haben muss. Die man nicht erklären kann und ein Außenstehender wohl niemals nachvollziehen könnte. Die bei emotionalen Umständen immer wieder spürbar werden. Es sind die billigen Provokationen in der U-Bahn. Am Gästeeingang. Auf dem Weg zum Stadion. Im Internet. Und wenn ich an den auf der Ehrenrunde hämisch grinsend in Richtung Gästeblock applaudierenden Niklas F. denke – ja, auch auf dem Rasen. Vielerorts. Ich möchte niemals tauschen. Mein weiß-grüner Stolz war und ist ungebrochen, daran kann ein verlorenes Derby genau gar nichts ändern. – Nürnberg, wir sehen uns wieder. Wir haben schließlich eine neue Versuchsreihe zu starten.

 

Gemeinsam nur nach vorne!

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